Eine englischsprachige Version des Artikels erscheint zeitnah auf der Website des New Art Examiner.net
(Berlin.) Ganz unerwartet ist der erste Eindruck, den Besucher beim Betreten von Katharina Grosses Ein-Werk-Schau am Museum Hamburger Bahnhof gewinnen, nicht überwältigend. Das ist bemerkenswert, denn die Künstlerin ist bekannt – weltweit bekannt, vertreten von mehreren geschäftstüchtigen Großgalerien - für nicht allzu subtile Kunst, für ebenso kraftvolle wie farbenfrohe Werke. Da erwartet man sofortige Faszination und Zweifel höchstens später, schnell beiseite geschoben. Diesmal ist es anders, geradezu umgekehrt, weicht anfängliche Ernüchterung nachhaltiger Begeisterung und das liegt nicht alleine an der Kunst, sondern vor allem auch an der Architektur. Schwarzeiserne Säulen und Fensterrahmen verleihen der riesigen Ausstellungsfläche im Zentrum des einstigen Bahnhofs ihren ganz eigenen Charakter - mehr Fluch als Segen für ein Museum, das seine Exponate ins Rampenlicht stellen möchte. Die Entscheidung darüber, was hier gezeigt wird, kann niemals leichtfallen, nicht, solange man nicht dem Beispiel jenes anderen in einem ehemaligen Bahnhof beheimateten europäischen Großmuseums folgt, des Parier Musée d’Orsay, und die Abfahrtshalle mit Schiebewänden in einen ganz normalen Raum verwandelt. Fairerweise ist anzumerken, daß Katharina Grosses Installation der Lokalität viel besser angepaßt ist als die zuletzt dort gezeigte von Cevdet Eret (an sich großartig, nur grandios unterdimensioniert!), dennoch dominiert auch diesmal wieder mindestens auf den ersten Blick Architektur über die Kunst, ohne daß beide in Symbiose oder einem fruchtbaren Dialog stünden. Wer hier eintritt, meint, er betrachte ein Gemälde aus dem Nebenraum – „Abstand halten“?, erspäht Formen und Farben in der Ferne, bildet sich womöglich erste, unpräzise, Ideen der kommenden Dinge und sollte nicht alle Hoffnung fahren lassen: Beim Nähertreten schwinden die Zweifel und der Spaß beginnt. Die Großinstallation überzeugt nicht auf Anhieb, sie tut es „mit Anlauf“.
Obzwar aus einem einzigen Werk bestehend, ist die Ausstellung in drei Teile zu gliedern: Boden, Skulptur und draußen. All diese sind gleicherweise bemalt oder vielmehr besprüht: mit der Farbpistole, finden sich mit Linien, Flächen, kaleidoskopischen Kreisen und Kurven bedeckt wie eines fleißigen Malers Palette und Atelierboden, unverhofft in die Freiheit gespült. Die Farben schreien „Graffiti“, aber auch „Kindergarten“ – kindlich, nicht kindisch! –, erinnern an bunte Kreidespuren auf dem Bürgersteig. Am Tag vor der Eröffnung (keine „richtige“ Eröffnung, kein „großer Bahnhof" für Grosses Bahnhof, bloß der erste Tag mit Publikumsverkehr; Preview und Pressekonferenz fielen ganz in's Wasser, bzw. die Petrischale) entlud sich ein starkes Gewitter im Himmel über Berlin; neugierig beugt sich der Besucher da zu Boden, berührt die Fliesen, ganz sachte, und führt den Finger vor sein Gesicht, aber nein: das hier ist keine Kreide, diese Farben halten auf dem Untergrund, selbst draußen dem Regen stand. Nichtsdestotrotz überprüfen wir bei jedem Quietschen auf’s neue unsere Sohlen, aber auch da haften keine Rückstände (und selbst wenn: einrahmen und versteigern wäre wirklich keine gute Idee). Während wir uns bereits um den Abbau sorgen, läßt uns eine krächzende Stimme zusammenfahren: „Bitte nicht berühren!“, es gilt aber nicht uns, immer noch kauernd, ein anderer ist der Skulptur zu nahe gekommen und das ist ärgerlich: Dieses Kunstwerk lädt zum Anfassen ein, so wie es buchstäblich mit Füßen getreten wird, dabei ist der skulpturale (Haupt-)Teil in der Tat höchstfragil! So heißt es denn: Nur gucken, nicht anfassen. „Styropor“ murmelt jemand und fast hätten wir widersprochen, „Splitter? Holz-, Metallsporne?“, sehen den Irrtum dann schnell ein: Styropor. Buntbemaltes Styropor in Gestalt eines abstrakten Gemäldes, das die Muster des Fußbodens fortsetzt – wie es im übrigen auch die Besucher in Farben und Formen ihrer Kleider und Körper tun, da sie Blumen- oder Stalagmitengleich über die Kunst wandeln. Jetzt ganz nahe, wähnen wir uns auf den Grund einer Eisgrotte versetzt, einer Gletscherspalte, an deren Wände die Sonne funkelnde Bilder malt, da ringsum Kristalle und esoterische Steine blitzen („Fühlst du die kosmischen Schwingungen im Lapislazuli?“), betrachten die Welt durch ein Prisma oder welche Mittel Sie sonst zur visuellen Bewußtseinserweiterung bevorzugen. Eines sollte inzwischen klargeworden sein: Diese Kunst lädt zu Metaphern und dem freien Spiel der Assoziationen ein, unweigerlich und immerfort. Sehen Sie eine Skaterampe, gesplitterte Speere und Faustkeile aus Mauern ragend, Schmetterlinge in Stroboskopgeflacker, evoziert der höchste Gipfel im Rückraum eine Kühlerfigur, den Spririt of Ecstasy vielleicht, oder einen Kampfjet, Papierflieger zumindest? Silver Surfer? Auf den zweiten, dritten, xten Blick drängen sich stets noch neue Vergleiche auf, ein Vogel – mehr Adler denn Taube, fliegender Fisch, Delphin oder Wal beim blasen (nichts unanständiges, nur Zoologie!) in stürmischer See. Mit einemmal gesellen sich mehr maritime Bilder dazu, interpretieren wir Wellenberge und Wasserrutschen in schockgefrorenem Tsunami, der sich aus Farbfässern ergoß. Das ist alles „falsch“ und „richtig“ zugleich, Katharina Grosses Malinstallation prüft und stimuliert des Betrachters eigene Kreativität gleich einem Rorschachtest „für alle“. Immer neue Details drängen sich auf, da wir inmitten der Farbexplosion Styroporstufen ins Nichts oder zu imaginären Tempeln entdecken – sind das nicht auch die Farben tibetischer (RIP) Sand-Mandalas?! Nebenbei: Vorsicht, Stufe. Nicht diese zur Skulptur gehörigen, die zu ihrem eigenen Schutz nicht berührt werden dürfen, sondern jene welche anderswo unvermutet und in perfekter Tarnbemalung aus dem Boden sprießen, bereit, den nur auf die Kunst fokussierten Besucher unsanft in die Realität zurückzubefördern. Die – wohltuende Abwechslung! - Abwesenheit jeglicher Warnhinweise ist durchaus positiv zu bewerten.
Draußen setzt sich das fort, keine Museumspforten könnten die Fluten eindämmen, die sich hier in die Nachbarschaft ergossen (nicht jedoch bis in die Baumwipfel, wie das in früheren Grosse-Installationen schon zu beobachten war), sie verbreiteten sich wie ein Virus, eine hochinfektiöse Ölfarbpest – oder, klingt allerdings kitschiger: Freude und Lachen, die nicht minder ansteckend sind. Versuchen Sie nicht, diesen Übergang zu freiem Eintritt zu nutzen, wie es manch einer tatsächlich wagte: die Wächter sind wachsam. Für einen Moment verlieren wir dann die Orientierung: Sollten hier nicht die Rieckhallen stehen? Jener Anbau, den das Museum ebenso wie die darin gezeigte Sammlung nur geliehen hat und nun bald aufgeben muß, gekündigt wegen „Eigenbedarfs“ und ohne, daß ein Mietendeckel schützen könnte? Wurden die etwa schon abgerissen?! Nein, da sind sie noch, linkerhand und wenn nicht ganz zum Ende hin, so doch bis in -zig Meter Entfernung bemalt, hier draußen waren wir nur nie zuvor, im Hinterhof der Kunst. Da steht auch eine Art mannshoher Gewächskasten aus Metall, unbepflanzt, könnte ein Werk sein, und im Gully entdecken wir weiße Styroporfetzen - die sind sehr nachhaltig, allerdings nicht im ökologischen Sinne. Am Spreekanal an der Ecke lockt ein Café, doch zurück zu den Rieckhallen, sie wirken wie Malwände für Ghettokinder, an denen ganz legal zu „writen" und zu „taggen“ ist (das macht aber doch den ganzen Spaß kaputt?! Nichts geht über den Stolz, „sein“ whole car auf den Schienen zu sehen, habe ich gehört). Auch hier ist alles ganz legal und ordentlich, nicht bloß groß, sondern auch artig, „typisch deutsch“ eben (nichts ist typischer deutsch als diese beiden Worte). Soweit die Kunst reicht, wurde nicht wortwörtlich die ganze Wand bemalt - alle Parkverbotsschilder wurden fein säuberlich ausgenommen, und derer sind da viele. Man benötigt sie wohl der neuen Nachbarn wegen, neben diversen Rohbauten ist eine Handvoll Appartmenthäuser der gehobenen Preisklasse schon frisch bezogen.
Möglicherweise ist das Projekt zumindest ein bißchen auch als Protest gemeint: Wie wären jene Hallen, die man nur allzu gerne länger, im Optimalfall als ewige „Dauerleihgabe“, behalten würde - genau wie die Flicksche Sammlung darinnen, die Mick (oder war’s Muck?) schon angedroht hat, in die Schweiz heimzuholen - besser in’s Licht der Öffentlichkeit rücken, als mit einer Großinstallation? Fürwahr keine schlechte Idee.
Da eine über die Grenze der Malerei gebeugte Gruppe unsere Neugierde weckt, treten wir hinzu und bemerken es dann auch: Bis hierher ist die Wand mit einer transparenten (Maler-)Folie abgeklebt und nur darauf hat Grosse gearbeitet! Noch besteht Hoffnung, die Mauer müsse nicht weg, das alles sei keine „Kunst am Abbau“. Beruhigend auch für die Putzkolonne und eventuell die Galerie/n: Wird die Folie einmal in einer Sammlung landen?
Sollten Sie im „Freigehege“ die Maske abgesetzt haben, vergessen Sie sie nicht beim Wiedereintritt (wie wir, wiederholt). Drinnen lesen wir erneut den Ausstellungstitel und klarer wird er uns dabei nicht: „It wasn’t Us“ – „Wir warn’s nicht!“ Wer denn? Wie jetzt? Künstler mit Assistenten/royales wir? „Höhere Wesen befahlen, ...“ oder wie hieß das kanonische Polke-Werk noch gleich? Dann besinnen wir uns der einmal vermuteten maritimen Zusammenhänge und denken „Öl“, nicht in kleinen Regenbögen, die sich in Straßengräben verlaufen, sondern größer, ganz groß, an ein Tankerunglück samt Ölpest in arktischen Gewässern, funkelnder Tod im Sonnenlicht, aber das waren doch eindeutig „wir“, „wir Menschen“?! Nein, das kann sie nicht meinen, eher wieder die Skater-Gören: „Graffiti? Was für Graffiti?“! Oder Künstlernachwuchs im Atelier, stößt Farbpötte um (wird Zeit, daß die Quarantäne endet, nicht wahr?).
Katharina Grosses Kunst zaubert ein Lächeln auf das Gesicht und man hofft, das träfe auf alle Besucher zu, wenngleich man es schuld der Masken nicht seht. Ihre Welt ist bunt und irgendwie auch clownesk, im besten Sinne. Sucht man nach Inspirationen und Einflüssen, ist (wie hier wiederholt getan) die Street Art zu nennen, aber auch Pollock potenziert und Grosse tröpfelt nicht: sie schüttet. Wie bei dem Gründungsvater des Abstrakten Expressionismus sind Chaos und Zufall kaum involviert, ist vielmehr jedes Detail wohlüberlegt. Die Künstlerin konnte wohl nicht vermeiden, „gross“ (Rettet das „ß“!) zu denken, wer als Familie Grosse die Tochter Katharina nennt, legt ihr zumindest keine Selbstzweifel in’s Taufbecken... auch wenn sie es anders ausspricht, so wie die "Gosse", in der sie als erfolgreiche Großkünstlerin wahrlich nicht leben muß.
Jetzt nehme man für einen Moment an, sie hätte sich entschieden, die ganze Bahnhofshalle zu nützen – dies wäre ihr vergönnt gewesen, handelt es sich nicht um eine Frage künstlerischer Freiheit, sondern monetärer Zwänge und gar des Denkmalsschutzes – statt eines grob geschätzten Drittels, hinauf den Wänden bis entlang der Decke...!
Katharina Grosse, It Wasn’t Us, Museum Hamburger Bahnhof, 14. Juni 2020-10. Januar 2021
World of Arts Magazine - Contemporary Art Criticism
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