(Berlin.) Neben Cevdet Erets Reise nach Bergama, und nicht offiziell Teil der Reihe Musikwerke Bildender Künstler, zeigt der Hamburger Bahnhof eine weitere Ausstellung, die des Besuchers Gehörsinn fokussiert.
Auf Werke Lawrence Abu Hamdans sind wir zuletzt anläßlich der Berlin Art Week 2018 getroffen, als er an einer Gruppenausstellung in der DAAD-Galerie teilnahm (der DAAD tauscht tatsächlich nicht nur Studenten, sondern auch Künstler aus, international) und sich in einer Videoarbeit Mauern und Klängen widmete. Die heutige Einzelausstellung ist klein gehalten, besteht aus Auszügen dreier Werkserien, deren beste mit dem Titel Disputed Utterance ("Umstrittene Äußerung") ganz zu Beginn steht, da Abu Hamdan nicht ohne schwarzen Humor die Gefahren des gesprochenen Wortes auslotet. Der Künstler sammelt Beispiele, in denen Dialekt, Akzent, Aussprache und Hörverständnis eine entscheidende Rolle in (vermeintlichen) Kriminalfällen spielten. So fand sich einst ein amerikanischer Arzt auf der Anklagebank wieder, nachdem er einem Drogennutzer - angeblich - geraten hatte: „Die Pillen können Sie auch spritzen“ (gemörsert, mutmaßlich). Seinen Freispruch hatte er nur einem starken griechischen Akzent zu verdanken, der ihn dazu brachte, stets das „t“ am Wortende zu verschlucken: „You can('t) inject those pills.“ Zweifel blieben.
Zweitens gab es da den tragischen Fall einer holländischen Touristin, die in Spanien in den Tod sprang, nachdem der Mitarbeiter einer Bungee-Station das Kommando „Now Jump!“ gegeben hatte. Er plädierte auf schlechte Englischkenntnisse und beteuerte, „No jump!“ gerufen zu haben. Das Gericht sprach besser Englisch und verurteilte ihn wegen fahrlässiger Tötung. Oder drittens, ein Notruf in London, bei dem der Bereitschaftsdienst aus diffusem Lärm nur ein einziges Wort heraushörte: „Murder“ („Mord“). Als Polizei und Rettungsdienst am Ort des Geschehens eintrafen, fanden sie eine ältere Dame vor, die wie eine spätere Autopsie ergab, eines natürlichen Todes gestorben war. Warum aber sollte sie in ihren letzten Worten Fremdverschulden impliziert haben? Der Fall wurde erst ad acta gelegt, als Experten zu dem Schluß kamen, das französischstämmige „Opfer“ sei mit einem Begriff aus der Fäkalsprache abgetreten: „Merde!“. Wie man in Schottland kommentieren würde: „Naebody modderd 'ir!“ Lawrence Abu Hamdan gibt noch ein anderes Beispiel kaledonischen Dialekts, das um die Frage kreist, ob „thrrrnie windae“ als „through Ernie’s window“ oder „through Ronnie’s window“ zu deuten sei. Schließlich wurde Ernie die Mitgliedschaft in einer Glasgower Bande nachgewiesen. Selbst Weltpolitik kann betroffen sein: Präsident Trump änderte -?- in einem Zitat zu möglichem russischen Einwirken auf die US-Wahlen „would“ („würde“) zu „wouldn’t“ („würde nicht“): “I have [met] President Putin, he just said, it’s not Russia, I don’t see any reason, why it would/n’t be.” - „Ich habe Präsident Putin (getroffen/gesehen/gefragt? das Kunstwerk läßt hier leider ein Wort aus, wohl unbeabsichtigt – oder tongue in cheek?), er sagte mir, es sei nicht Rußland, ich sehe keinen Grund, warum es /nicht so wäre.“ Dieses Beispiel zumindest ist hinlänglich dokumentiert, während wir uns bei anderen auf das Wort des Künstlers verlassen müssen, was grundsätzlich keine gute Idee ist. Letztenendes spielt es aber auch keine Rolle, ob Abu Hamdan viele Stunden beim Studium von Gerichtsakten und Vermischten Meldungen verbringt oder zumindest in einigen Fällen seiner Phantasie freien Lauf ließ. Von allen Beispielen erfahren wir in auf Plexiglas gedruckten Kürzestgeschichten, sie hängen unter Palatographien, das sind Photographien oder genauer: Photogrammen, von Mundhöhlen. Bei der Technik füllt eine Versuchsperson ihren Mund mit Kohle und Olivenöl, beißt dann beim Sprechen auf ein Blatt Papier; sie wird u.a. zur Dokumentation und Archivierung aussterbender Sprachen eingesetzt.
Die Ausstellung setzt sich in einem schmalen Korridor fort mit vielen flackernden Bildschirmen. Wir sehen Szenen aus einer Wüste, hören arabische Sprachfetzen, hektisch, aufgeregt, und der Wandtext belehrt uns, dies seien die Golanhöhen, die syrische Grenze, es ist 2011 und Familien (potentiell auch Kombattanten), die sich seit Jahrzehnten über das Niemandsland hinweg zuschrien, durchbrechen die Barrieren, in mehreren Todesopfern unter israelischem Gewehrfeuer resultierend. Die Stimmen sind uneindeutig, drücken gleichenteils Panik und Wiedersehensfreude aus. Nur die Angst vor Landminen war unbegründet, welcher Fakt der Installation zu ihrem Namen verhilft: Die ganze Zeit waren da keine Landminen.
Schließlich, schon am Ende der Ausstellung, ein kleiner Raum und die Geschichten somalischer Auswanderer nach – irgendwo, wo das Gras grüner ist (so hoffen sie zumindest). Ganz wie in europäischen Nationen, werden auch in Somalia zahlreiche Sprachen und Dialekte gesprochen. Dies führt zu Problemen, wenn Einwanderungsbehörden in der EU sich eines computerisierten Tests bedienen, um die Angaben selbstidentifizierender Somalis zu überprüfen. Weil nach 2015 nun doch auch hin und wieder einmal jemand abgewiesen wird, DNA-Tests aber in einem schlechten Ruf stehen (bzw. illegal sind), entwickelte ein schwedisches Unternehmen besagten Test, der mittels künstlicher „Intelligenz“ Sprachaufzeichnungen analysiert und dabei fehleranfällig ist, zumindest erscheint die Ablehnquote statistisch signifikant hoch. Der Maschine klingen womöglich zuviele Antragsteller nicht so wie waschechte Somalis klingen sollten. Für mehr Kontext erfahren wir noch manches über die Sprachgeschichte Somalias und können anonymisierten Testresultaten auf Postern in unserem Heim Asyl gewähren. Alles sehr informativ, aber der künstlerische Gehalt ist nicht sonderlich hoch, oder?
Jene erste Serie dagegen: brillant. Wer war es noch, der sagte „das Vaterland ist die Muttersprache“, oder ähnlich? - Danke Google/DuckDuckGo: Emil Cioran. „Man bewohnt keinen Staat; man bewohnt eine Sprache. Das ist unser Land, unser Vaterland – und nichts anderes.“ (Wenn Ihnen das Zitat aus irgendeinem Zusammenhang bekannt vorkommen sollte, haben wir möglicherweise dieselben Videospiele gespielt.)
Titel sind wichtig, und im Falle dieser Ausstellung lautet er The Voice Before the Law („Die Stimme vor dem Gesetz“). Die Kuratorin erwähnt in dem Zusammenhang bloß zwei mögliche Interpretationen - Priorität: Menschliche Stimme beugt Gesetz (Mensch vor Recht) oder - ganz wörtlich: Einer Stimme wird der Prozeß gemacht.
Da steckt mehr drin. Man sollte niemals eines Künstlers Allgemeinbildung unterschätzen und Vor dem Gesetz, einer von Kafkas bekanntesten Texten wird immer noch weltweit gelesen. Wichtiger als diese mögliche Anspielung ist eine potentielle zeitliche Prävalenz: „Am Anfang war das Wort (/Stimme)“, die gab das Gesetz. Einmal mehr kennen wir nicht den persönlichen Hintergrund eines Künstlers, höchstwahrscheinlich aber ist er in einer der drei Abrahamischen Religionen zu verorten. - Ja, liebe Millenials, natürlich gibt es auch Hinduisten, Shintoisten, Scientologen und womöglich gar Bokononisten in Beirut, wo Abu Hamdan seinen Hauptwohnsitz unterhält, da gilt aber auch die Stimme der Wahrscheinlichkeitsgesetze. Womit wir bei der Babylonischen Sprachverwirrung wären, nebenbei nicht das schlimmste, was der Menschheit zustoßen konnte: Von allfälligen Opfern einmal abgesehen (siehe oben), ist wechselseitiges Un- und Mißverständnis wichtige, gar unabdingbare, Voraussetzung für die Existenz einer viel- statt einfältigen Welt. Menschen fühlen, glauben, interpretieren und vor allem: irren, Computer wissen, rechnen, sind eindeutig und -heitlich. Aber zurück zur Kunst und, Überraschung: Man kann das auch andersherum lesen: Zuerst muß da eine – menschliche! – Stimme sein, dann erst gibt es – gesatztes - Gesetz, mithin eine Absage an jedwedes Naturrecht. Vielleicht steckt noch mehr in dem Titel, denken Sie darüber nach, Sprache macht Spaß, sie ist nicht binär sondern offen für individuell ungleiches Verständnis; das könnte unsere digitale Zeit natürlich überfordern.
Ein Besuch von Lawrence Abu Hamdans The Voice Before the Law lohnt sich in diesem Herbst. Und nuscheln Sie ruhig ein wenig, wenn Sie anderen über die Ausstellung berichten: „aba’ ham’ dann, bevor se’ loag...“, das weckt Interesse.
Lawrence Abu Hamdan, The Voice Before the Law, 26. Oktober 2019-09. Februar 2020, Museum Hamburger Bahnhof
World of Arts Magazine – Contemporary Art Criticism
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