(Berlin.) Wie bei einem guten Bier gilt auch für das Brauerei-eigene Kindl Zentrum für Zeitgenössische Kunst „Drei halbe sind besser als ein ganzes” und so präsentiert man regelmäßig drei Parallelausstellungen mit teils um Tage, teils um Wochen versetzter Laufzeit. Auch die Öffnungszeiten scheinen sich an den Trinkgewohnheiten nicht alleine vieler Künstler zu orientieren: immer mittwochs bis sonntags. Daß bei diesem Programm nicht durchgängig ein hohes Niveau gehalten werden kann, wird einleuchten, genau dies verleiht dem Besuch aber einen speziellen Reiz: Der Besucher fühlt sich eingeladen, den persönlichen Favoriten zu finden und gar noch über die anderen zu lästern.
Derzeit bildet das untere Drittel, sozusagen die leere „Molle", in der schon einige Kippen baden, (unserer unmaßgeblichen Meinung nach) eine Gruppenausstellung skandinawischer Künstler, deren Werke unter dem Titel Landscapes of Belonging planlos zusammengeschüttet wirken, ohne ein harmonisches Ganzes zu bilden wie es bei einer Gruppenausstellung das Ziel sein sollte. Ein besonders ärgerliches Detail besteht im Fehlen aller Labels an den Wänden, um zu erfahren, wer im Einzelfall was und warum gebraut hat, bedarf es schon des - sehr - abstrakten Lageplans im ausliegenden Gratisheftchen (auf Altpapier gedruckt aber doch vermeidbar, mir soll's egal sein), ein grober Grundriß aus wenigen Strichen und vielen Zahlen, jedoch ohne Abbildungen, die Verwechslungen vermeiden könnten. Wen stört es nicht, in einer Ausstellung ständig gesenkten Kopfes in's Logbuch schauen zu müssen?
Inhaltlich ist hier alles Mainstream, mehr des gleichen, das wir eh' schon an allen Ecken und Enden eingehämmert bekommen ohne vom „einzig richtigen" Kanon abweichende Zwischenstimmen. Belanglose Systemkunst, die kaum mehr zu überraschen vermag oder höchstens in ihrer Herkunft: Auch Skandinawier, gemeinhin doch die Inkarnation der Blondness, dürfen jetzt einmal Opfer sein, schauen sie*er weit genug zurück und finden beispielsweise Lappen oder Eskimos (wann wohl die erste kunstgewordene Lamentation ostfriesischer Künstler folgt?). Dann suhlt man sich in generationsverschobenem Selbstmitleid, denn „diskriminiert", im Wortsinne also „unterschieden", zu werden, begreift niemand mehr als Auszeichnung, da alle nurmehr gleich und austauschbar sein möchten. Wir finden Plastikgedärme, Filme, für sich ganz eindrucksvolle Photos, verlassen die Ausstellung aber schnell wieder mit kaum gestilltem Durst nach Kunst.
Eine Etage höher ist das Glas halbvoll, respektive -leer: Zwar wäre auch Michaela Melián lieber Politiker, Lehrer oder sonstiger Demagoge geworden als Künstler, manche ihre Werke sind aber trotzdem gut gelungen. Gleich hinter der Eingangstür steht etwa ein überdimensioniertes Plüsch-Maschinengewehr, das als Sitzgelegenheit taugen könnte (es aber nicht darf) und vielfach mulipliziert, aber kleiner, an den Wänden wiederkehrt. „Schwerter zu Sofalandschaften” oder wie hieß das noch?
Hinter einem halbtransparentem Vorhang, der dem Betrachter auch nach längerer Suche keinen Einlaß bietet, scheint der Lichtkegel eines Leuchtturms zu kreisen während ein Tonband arabisch(?) spricht. Erst als wir nach dem Anblick einer Gruppe Hängestühle (ist Melián im Hauptberuf Innenarchitektin?) auf der anderen Seite anlangen, findet sich der - wie sich herausstellt: Halb-! - Kreis offen und unverschleiert. Der „Leuchtturm" entpuppt sich als rotierender Diaprojektor inmitten eines Sammelsuriums von (nicht Bier-!)Flaschen, Karaffen, Gläsern und Flakons auf einem Tisch, deren Schatten er an jenen, das Werk zur anderen Seite hin abschließenden Vorhang wirft - ein alchemistisches Labor? Nicht das Kindl treibt unsere Gedanken weiter zum Geist aus der Flasche, dem Dschinn der irgendwo darin stecken mag und später wird sogar deutsch gesprochen, von Heimweh. Das Highlight wartet aber hinter der nächsten Ecke und einem zweiten, größeren und schwereren, Vorhang, diesmal mit sofortigem Zutritt.
Die Augen brauchen eine Minute und mehr, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, erspähen dann schwarze Puffs auf dem Boden, man könnte es sich bequem machen wählt man nicht die Bank im Rückraum (auf welcher sich Kopfhörer mit einer englischsprachigen Übersetzung des Werktextes finden). In Lichtreflexen auf kleiner Kinoleinwand identifizieren wir allmählich nächtliches Schneetreiben - oder doch ein Insektenschwarm? die fliegen wieder zahlreicher! - auf der Windschutzscheibe eines Wagens, eingefangen von einer aufwärts gerichteten Dashcam, da manchesmal die Scheibenwischer ins Bild rutschen. Die Tonspur ist sehr poetisch und die Broschüre verrät uns später, wieder im Hellen, es handle sich um ein Remake, bzw. die Hommage an eine verlorengegangene Installation von 1965 mit Text von Alexander Kluge. Nur anfänglich klingt das nach Verkehrsfunk, als wir in suggestiven Stichworten von Autofahrten und Bahnreisen hören, „Frühstück in München, Abendessen in Kopenhagen", die Welt wurde kleiner, rückte mit dem Schwinden aller Entfernung zusammen und der Wetterbericht war noch ein anderer, da wurde das freie Individualreisen gemeinhin sehr positiv bewertet (zur historischen Einordnung: Kerouac, On the Road, 1957).
Quo vadis also? „Mit dem Zug nach Teheran, mit dem Bus in die Türkei", wenige Worte drängen Bilder und ganze Abenteuerromane auf, der hypnotische Soundtrack wurde von „historischen" Instrumenten eingespielt und trägt gewichtig zur Stimmung bei, „Soll mein Herz tragen zu dir" zweimal im Chor mit Echo (Moooment, war da nicht kurz zuvor wieder die Rede von „Zug" oder „Bahnhof" -> Schlußszene Doc Schiwago?). „Abschied, Entfernung, von City zu City, Ankunft, Landschaft, Berufsverkehr, ..., Gütertransport, Urlaub, Jahreszeiten, Schienen, ..." und immer so fort. Wichtig scheint nur, daß es beim bodenständigen Deplacement bleibt, das stets noch die Erfahrung von Bewegung mitbegreifen läßt statt sie unter Wolken aufzulösen. Endlich wechselt das Bild zu weißen Linien auf Papier oder Fäden auf Stoff, Parzen-gewebte Lebenswege mögen das sein, viele einzelne bilden eine ungeregelte Topographie und dann spricht die Stimme aus dem Off mit Akzent (es steht zu bezweifeln, daß das beim verlorenen Original auch so war). Hier sagen sie es einmal selber: „Wir wollen dasselbe sprechen wie Ihr" (und kaufen).
Nur ein Hinweis: Es heißt „LKW", nicht „LKWs", „Lastkraftwagen" nicht „-wagens". Und an das Kindl-Zentrum: Zwei Tage vor dem Aufheben (fast) aller grippebedingten Einschränkungen noch auf den korrekten Sitz der Vermummung zu dringen ist typisch deutsche Wichtigtuerei.
Zum Abschluß dann die Schaumkrone im „Kesselhaus", das viel Platz für Großinstallationen läßt. Alexandra Birckens Fair Game, also „Freiwild" (nein, nicht die Band, im Begleitzettel „übersetzt man frei 'Gerechtes Spiel'", wobei „game" natürlich auch ganz wörtlich „Wildtier" bedeutet und nebenbei bemerkt ist das der Titel eines obskuren Neunziger Jahre Trashthrillers mit Supermodel in der Hauptrolle), sei maßgeblich von Sam Beckett inspiriert und das glauben wir gerne: Wie in den Ruinen eines Atomkriegs hocken und hängen da überall schwarze Schatten, die sich bei genauerem Hinsehen als Gummipuppen und abgestreifter Schlangenhaut gleiche Latexanzüge herausstellen. Bei langsamer Baßuntermalung wandelt der Besucher unter Erhängten während die Assoziationen zwischen „morgens, halb zehn in Hiroshima" und „Montag mittag im Berghain" schwanken. Hinsetzen und genießen, eventuell mit einem kühlen Kindl in der Hand - oder Brlo, Flens, was auch immer...?
Landscapes of Belonging, 6. März - 3. Juli 2022
Michaela Melián, Red Threads, 27. März - 24. Juli 2022
Alexandra Bircken, Fair Game, 19. September 2021 - 15. Mai 2022
World of Arts Magazine - Contemporary Art Criticism
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