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  • Christian Hain

Die Kunst in den Zeiten des Corona


(Berlin.) Rückblende auf den November 2019, das Berliner Wetter war das gleiche, Wuhan nur eine Stadt in China und wer ein kaltes Corona zischen wollte, konnte das tun, ohne bemüht „witzig“ zu wirken. An der Gemäldegalerie eröffnete eine Ausstellung, mit der man hoffte, unter die global ersten zu zählen, die den fünfhundertsten Todestag des italienischen Renaissance-Genies Raffael museal begehen. Fast, als hätten sie etwas geahnt – gab es da nicht diese Berlin-Pekinger Kunst- und Geschäftsveranstaltung kurz zuvor... nein, definitiv Zufall! Mittlerweile haben wir 2020 und das Raffael-Jahr hat sich als chinesisches Jahr der Fledermaus entpuppt. Während manche noch Desinfektionsspray und Toilettenpapier horten – warum eigentlich Klopapier? wie mein Hausmeister so treffend bemerkte: „Zur Not nehm’ ick mir doch een Lapp’n oda loof unter die Dusche!“ – schlagen andere ihren Kopf gegen die Wand: „Warum habe ich im Januar nicht tausend Atemmasken bestellt, sie jetzt bei Ebay 'reinzusetzen – 100€ im Set mit einer Flasche Mexiko-Plörre!" Die Gewinne ließen sich auf den Aktienmärkten bald verdreifachen: perfekte Einstiegskurse derzeit und nicht nur für Zellstoffproduzenten! (Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment, während ich meinen Kopf gegen die Wand schlage). Überhaupt: Könnten wir nicht einen besseren Namen als Covid-irgendwas finden? Erstens klingt das so nach Kiebitz („coooo-vid, coooo-vid“) und zweitens ganz seriös-wissenschaftlich-unmenschlich. Wie wäre es stattdessen mit „Wuhan“ – die „Ruhr“ ist auch ein Ort, meinetwegen auch „Wuhan-Virus“, kurz „Wuvi“? Oder lieber „Chinagrippe“, die immerhin keine Spanische ist (Gott sei Dank ist sie es nicht!)? Dann laßt uns eine Kontemplationsminute für die paradoxe Tragik der menschlichen Existenz einlegen: Die Jungen hetzen von #Krise zu #Krise, eskalieren und kaufen jedes Geschrei und merken – nur vielleicht - irgendwann einmal auf: Mooooment, waren wir hier nicht schon einmal? ... #Vogelgrippe... #Schweinegrippe.... #SARS... #MERS (nicht mit MERZ zu verwechseln!)... #H5N1... #Chikunguya... #Klimawandel... (schon gut, 'tschuldigung für das letzte). Für dieses Individuum könnte es dann allerdings zu spät sein, die abgeklärten Alten sind tatsächlich in Gefahr: Wuhan mag sie, anders als Las Grippita Español, die sich ihre Partner damals jung und knackig wünschte, wenngleich ausgelaugt von WK1.


Jene Raffael-Ausstellung an der Gemäldegalerie ist (oder krisenbedingt inzwischen: war) der erste Teil eines Doppelschlags, erster Flügel eines Diptychons, dessen zweiter im ganz späten Februar – nur vorübergehend - am Kupferstichkabinett Premiere feierte. Immer wieder verwirrend: Das ist dasselbe Gebäude, aber nicht dasselbe Museum, und da finden sich noch allerlei andere Kulturinstitutionen. Nach der zeitlich versetzten Eröffnung sollten beide Ausstellungen ohnehin nur kurze Zeit kongruent laufen, was als durchaus geschäftstüchtig anzuerkennen ist, schloß man so doch im vorhinein viele Fragen nach der Existenz von Kombi-Tickets aus (es gibt*gab keins).

Das Thema "Raffael in Berlin" ist von ein bißchen Historie umgeben, einst wurde das Bode Museum um den so getauften "Raffaelsaal" herumgebaut, darin man einige Wandteppiche zeigte. Die gingen im 2. Weltkrieg verloren, über welche Episode die genannten Museen demnächst ein Buch ko-herausgeben (*herausgeben möchten, die Vorstellung wurde krisenbedingt schon abgesagt), von Enzensberger geschrieben. ... Ok, nicht der (im übrigen zur Risikogruppe zählend!), sondern „nur“ Alexandra Enzensberger und etwaige Verwandtschaftsverhältnisse thematisiert man nicht (Enkelin?).


In Abwesenheit der Wandteppiche konzentriert*e man sich an der GG auf fünf hauseigene Madonnengemälde nebst eines sechsten, das ein Herr Gesandter von Bunsen (nicht der mit dem Brenner! und Verwandtschaftsverhältnisse thematisiert man nicht) den preußischen Kulturinstitutionen in den 1820er Jahren von dem damaligen italienischen Eigentümer zu erwerben nahegelegt hatte, allein die deutsche Kulturbürokratie...., stattdessen bekam englischer Adel den Zuschlag, der es einige Generationen später an die National Gallery weiterveräußerte. Heute zeigt London uns "die Pinke", wie man die Madonna of the Pinks im Umkreis der Ausstellung heißt – zu deutsch: Maria mit den Nelken, so benannt des Bouquets wegen, das das Jesuskind seiner Leihmutter darin darbietet. Die Pink Lady ist ohne Frage eine Schönheit, sticht damit aber nicht aus der Reihe farb- und formenfroher Meisterwerke in dieser kleinen doch höchst feinen Ausstellung hervor. Hier treten wir mitten in die italienische Renaissance, eine der glorreichsten Epochen menschlichen Kulturschaffens. Der Schritt aus dem Mittelalter, wie wir es in den umliegenden Räumen noch überall antreffen, war ein großer für die Künstlerheit - obwohl,... da sind schon einige sehr bemerkenswerte Werke in den Nachbarräumen, die GG lohnt unbedingt einen längeren Besuch! – d.h. sobald s.o.


Wie erwähnt richtet*e das Kupferstichkabinett die Komplementärausstellung aus und dort zeigt*e man nur Werke aus dem eigenen Bestand. Darunter sieben Zeichnungen von des Meisters eigener Hand (auf sechs Blättern, deren eines er beidseitig benützte – sage niemand, die Kunstwelt sei nicht damals schon um Nachhaltigkeit bemüht gewesen!). Vorbereitende Studien aus dem Schaffensprozeß großformatiger Werke sind das, an sich kaum weniger beeindruckend als jene. Den Raum füllte man mit über siebzig Arbeiten anderer Künstler auf, zum einen Zeichnungen aus den Ateliers Raffaels und seines Lehrers Perugino, letztere aus Raffaels Lehrzeit datierend – er mag also durchaus Pinsel/Feder/Stift mitangelegt haben, zum anderen Kupferstiche und Holzschnitte von Zeitgenossen, die – meistens - mit Raffaels Wissen und Einverständnis seine Vorlagen in Serie druckten. Soweit wir das heute wissen, rührte der Maler selbst niemals einen Grabstichel an, beauftragte aber regelmäßig andere dazu. Ihnen lieferte er entweder – selten – dedizierte Originalentwürfe, oder – häufiger - „Abfallprodukte“ (sagen wir lieber „Kollateralkreationen“) aus dem Atelier, Skizzen und Studien für Gemälde und Fresken.


Marcantonio (sic!) Raimondi ist vielleicht der bekannteste unter den Vervielfältigern, in jedem Fall überwiegen seine Adaptionen in der Sammlung des KSK (nicht KünstlerSozialKasse, noch KommandoSpezialKräfte). Er wurde Raffaels Freund und Kupferstecher (...) nachdem er seine ersten Erfolge als Fälscher von Dürer gefeiert und dabei gar die Signatur des Deutschen verwendet hatte, was selbst nach Renaissancestandards mehr als ein Geschmäckle hatte. Leider erfahren wir nichts näheres über die Konditionen der Zusammenarbeit und das liegt vor allem an der dürftigen Quellenlage. Raffael profitierte offensichtlich nicht nur immateriell zu Zeiten da der Genuß von Kunstwerken sonst wenigen, und Reisenden, vorbehalten war. Was aber mag Raimondi bewogen haben, nicht seine eigenen „Raffaels“ zu drucken, ohne Beteiligung Raffaels?


Wir entdecken die Lucrezia, ein Druck von dem es heißt, er habe zuerst Raffaels Aufmerksamkeit geweckt, daneben aber auch einen weiteren Suizid - diesmal identifiziert der Titel Dido – und die Posen sind sich sehr ähnlich. Fast könnte man sagen, Raimondi habe den Geist der Serienfertigung auf’s äußerste verinnerlicht, so sehr, daß er noch sich selbst kopierte!

Auch dürfen wir unterschiedliche Drucke eines selben Gemäldes vergleichen, etwa im Fall der vielleicht bekanntesten Graphik „nach Raffael“: Der Bethlehemitische Kindermord (1511-12). Raimondis strenge Linien und harte Kontraste wirken beeindruckender als Agostino Venezianos Verwischungen (hoffentlich nicht eine Frage der Restauration?!), in denen gleichwohl noch mehr Leben ist als in Ugo da Carpis Holzschnitt (das ist allerdings eine Frage der Technik!). Wer länger in der Ausstellung verweilt, mag eine mentale Rangordnung erstellen, die sich so lesen könnte: Raimondi > Marco (nicht „Al“) Dente > Carpi > Veneziano.

Unter den Werken aus der Künstlerwerkstatt befindet sich derweil ein Porträt Hannos, des (vermutlich weißen) Elephanten, den Manuel I. von Portugal Papst Leo X. schenkte, nachdem er ihn aus Indien hatte importieren lassen, wohl in memoriam Hannibals so genannt. Es mag allein an der exotischen Fauna liegen, aber der Graue weckt Erinnerungen an Dürers Nashorn.


Ein gutgemeinter Ratschlag: Sollten Sie Künstler sein und mit der Namensgebung Ihrer Werke zögern – was ihnen auch einfallen mag, es ist mit Sicherheit besser als alle kreativen Ergüsse der Nachwelt. Madonna mit dem langen Oberschenkel, Nr 1 und 2, in Kupfer gestochen von Raimondi respektive Dente klingt doch furchtbar! ...Es sei denn, dahinter stecken in mittelalterlicher Märendichtung bewanderte Germanisten, Beringer mit dem langen A--- (Berlichingen) ist allgemein aber eher unbekannt.

Endlich bei den Originalzeichnungen angelangt, bleibt nicht viel denn ehrfürchtig Lob zu zollen. Auf den ersten Blick mögen das Jesuskind und der kleine Johannes etwas plump wirken, beim Nähertreten gibt sich das aber, ist nur der erste Eindruck. Kaum überraschend sind Raffaels Zeichnungen der beste Teil einer insgesamt großartigen Ausstellung.



Zuguterletzt ist hier vielleicht noch Platz für einige Anmerkungen zur Lage der Nation*en. Die Situation grenzt an’s Groteske: Im Vergleich der Epidemien ist die Chinagrippe mit Verlaub gesagt relativ harmlos. Die meisten unter uns würden eine Infektion nicht einmal bemerken, könnten mithin ganz gelassen bleiben. Die Welt wird nicht entvölkert (sehr zynisch wäre es, jetzt von der Logik jeder Überpopulation zu reden, die sich irgendwann eben doch natürlich regulieren mag, virus homini lupus est). Das schließt die (Für-)Sorge und das Mitleid um Angehörige und ganz allgemein Risikopersonen nicht aus, nur sind jene per definitionem ständig gefährdet, alltäglich den vielfältigsten Risiken ausgesetzt. Risiken, die wir gewohnt sind, zu ignorieren weil wir sie kennen. Jede Erkältung kann zu – potentiell letalen - Komplikationen führen, gleich welcher Virus dahintersteckt. Aber noch einmal: Im nicht bloß historischen Vergleich ist Wuhan handzahm. Und doch, und das ist das eigentlich beängstigende, bricht die Gesellschaftsordnung beinahe zusammen. Die hier zutagetretende Fragilität von Wirtschaft und öffentlichem Leben ist besorgniserregend. Man wagt kaum, sich vorzustellen, was und wie schnell das geschähe, käme es einmal zu dem globalen Ausbruch einer wahrhaft mörderischen Seuche, hämorrhagische Fieber, Pest und Cholera. Nach den Beobachtungen der vergangenen Tage scheint es fast nicht mehr übertrieben, für diesen Fall das Ende der Welt wie wir sie kennen vorauszusagen. Einige würden das begrüßen: Wenn weniger als zehntausend Tote die Welt in die Knie zwingen, ist das eine Tatsache, die nicht zuletzt terroristische Gruppen und streitlustige Diktatoren begeistert und Biowaffen auf so manchen Einkaufszettel setzt.


Eine Börsenweisheit macht für jeden Crash zu einem hohen Prozentsatz die menschliche Psyche verantwortlich, und auch jetzt wird da wieder maßlos nach unten übertrieben. Das ist in Ordnung, das ist normal und das muß so sein, aber je mehr alle Systeme bis hin zum Staat sich als Unternehmen definieren, desto allgemeiner gelten dieselben Mechanismen. Menschen sterben. Die Welt dreht sich weiter. Gegen Viren hilft immer nur das Immunsystem (den täglich auch von ihrem Körper verübten Genozid an Kleinstlebewesen akzeptieren selbst Veganer); bislang kennt die Medizin für sie kein Equivalent zu den Antibiotika, die Bakterien - weit- und nur vorübergehend? - in die Schranken wiesen.


Im neurotischen Wahn, alles beherrschen zu müssen, sich selbst zur Allmacht verdammend, wurde binnen einer Generation die Risiko- zur Panikgesellschaft. Nach Gründen für die Hysterie brauchen wir nicht lange zu suchen, in der totalen Diesseitigkeit hat die Moderne den Tod verlernt und irgendwann und irgendwo bricht doch die Furcht hervor. Rentner mit Fahrradhelm sind nur ein Symptom des alltäglichen Wahnsinns, wer mit Achtzig nicht gelernt hat, sich seine Endlichkeit einzugestehen, - auch weil er niemals einen Sinn suchen durfte -, wird es wahrscheinlich nicht mehr. Und welche Alternative hätten sie, derzeit bleiben selbst die Kirchen geschlossen, die damit endlich offen und unverblümt eingestehen, längst ihren Glauben verloren zu haben (bzw. illegalisiert der Staat ganz paternalistisch andere Wertsysteme als den Konsum des Hier und Jetzt). Wir erhoben uns zum letzten Prinzip, alle Schutzwälle einzureißen, die sich der Mensch gegen das gegebene Nichts errichtete, von Rollen und Essenzen zu Kulturen und Glaubenssystemen, jeden Grund zum Leben - und wichtiger noch: zum Sterben. Denn darum ging es eigentlich bei allen Bekenntnissen und Philosophien: nicht mit dem Leben fertigzuwerden, sondern mit dem Leben fertig zu werden. Aber triumphierend und voller Stolz verkünden wir immer wieder und überall: „der ist ja ganz nackt!“, da ist nichts, nur alle und alles gleich, tierisch. Bloß Mathematik. Und ignorieren, daß Menschen in’s Nichts Welten schufen, denen nicht weniger Realität zukam. Und daß sie sich nicht nur ängstigen, sondern fürchten können. Neue Herausforderungen, eine neue Bedrohung, selbst auferlegte Beschäftigungstherapie, in manchem erinnert das an den Klimakonservatismus, es ist die Unberechenbarkeit, die den Massenmarkt stört. Und von irgendwoher blitzt das Absurde auf.

Die Kunst blüht auch in Zeiten der Pestilenz, ersteht aus Italien bald ein neues Decameron?


Raffael in Berlin – Die Madonnen der Gemäldegalerie, Gemäldegalerie, bis auf weiteres geschlossen

Raffael - Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett, Kupferstichkabinett, bis auf weiteres geschlossen

World of Arts Magazine – Contemporary Art Criticism


P.S.: Nachdem wir kürzlich noch unternehmerische Begabung und Erfindergeist der Museumsshops dieser Welt gewürdigt haben, ist heute zu konstatieren, daß ein italienischer Süßwarenhersteller eine Gelegenheit verpaßt hat.

P.P.S. Nein, die Chancen sind wirklich verschwindend gering, daß es sich bei der ganzen Angelegenheit um einen Marketingcoup der Art Basel handelt, um die neuen Online Viewing Rooms zu füllen.

P.P.P.S. Sehen wir es einmal positiv: Eine große Mehrheit der Berliner – zumal in der Kunst! – wünscht sich nichts sehnlicher als die Wiederkehr des Sozialismus und einem*r Virus*a (ich weiß nicht, als was er*sie*es sich identifiziert!) sei Dank sind zumindest schon wieder die Regale leer und die Grenzen dicht. Ein Grund zur Freude also?


 


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