(Berlin.) KW Institutes Beitrag zur diesjährigen BAW mußte wegen Umbaumaßnahmen außer Haus stattfinden und manch ein Kunsttourist mag das zunächst falsch verstanden, sich auf eine „Charity"-Kunstauktion z.B. von VR-NFTs gefreut haben - tatsächlich ging es aber zur „Charité", dem traditionsreichen Berliner Lehrkrankenhaus.
Dessen Außengelände ist viel weitläufiger als vermutet und möglicherweise war die Ausstellung auch nicht perfekt ausgeschildert, zumindest für Menschen mit defizitärem Orientierungssinn (da bitte ich jetzt auch einfach mal um mehr „accessibility", denn wo der kleinste gemeinsame Nenner regiert, hat stets die Allgemeinheit unter Mängeln der Minderheit zu leiden), jedoch ließ sich die Zeit des Herumirrens nutzen, neue und faszinierende Einblicke in eine geheimnisvolle Welt hinter Mull, Massenbetrieb und Mikroben zu gewinnen.
Tatsächlich entpuppte sich das Charité'sche Hinterland als äußerst pittoresk, ein Idyll, das geradezu an Marie-Antoinettes „authentische" Modelldörfer erinnert, wo efeubewachsene Altbauten, Backsteinmauern und Eichenbestand ein lauschiges Bächlein umgarnen, „was kümmert es den deutschen Oberarzt, wenn der Kassenpatient klingelt", „hier bin ich Arzt, hier darf ich's sein", wo Arztklischees wie der parkende Jaguar-Sportwagen noch ganz ungeniert am Leben erhalten werden (bloß nach dem Schwesternwohnheim hielt ich vergeblich Ausschau). Auch - und vielleicht insbesondere - als Arzt hat man es gerne gemütlich, möchte es sich zwischen zwei OPs und einer Vorlesung bei Kaffee und Kuchen im Café-Schuppen gutgehen lassen, fernab der hektischen Betriebsamkeit - nur gute hundert Meter entfernt und doch unerreichbar für dem üblichen, mit Verlaub: Fraß entlaufende Patienten, klingen hier selbst die Sirenen der mehr und mehr und immer mehr Arbeit bringenden Krankenwagen angenehm gedimmt. Da kann man durchschnaufen und in Ruhe das Blut am Kittel trocknen lassen, während sich zugleich aus der stillen Ferne das Backend der heilenden Hallen beobachten läßt, hier wird gerade ein neues HighTech Spielzeug ausgeladen und da wartet bereits der nächste Lieferant, ein Bierkutscher bzw. -LKW, aber die Aufschrift mag täuschen und ganz andere Drogen darin transportiert werden.
Vis-à-vis eines imposanten Altbaus - für Festivitäten, Medizinerbälle und „Conventions" oder doch bloß die Verwaltung? - erspähte ich endlich das „Tieranatomische Theater", historisch eines der ersten weltweit. Ganz offensichtlich nicht für Aristophanes-Festspiele erbaut, wurden dort ausschließlich Tragödien gespielt und zumeist auch nur der letzte Akt: Die „Charité", „Barmherzigkeit" also, bezog sich selten auf nichtmenschliche Patienten, jedenfalls nicht als Individuen sondern höchstens als Spezies betrachtet, zu deren Verwertung man allerlei Forschung betrieb. Auch wenn das bei unserem Besuch im letzten Detail unklar blieb, ist anzunehmen, daß die Untersuchung der Anatomie nicht immer nur am bereits verschiedenen Objekt erfolgte.
Im Vorgarten drückte noch schnell jemand zur Kunstveranstaltung gehöriges die Kippe auf dem Rasen aus und ließ sie ganz unökologisch liegen - ich war entsetzt (und ein kleines bißchen beeindruckt ob des rebellischen Gestus), während eine andere Kollegin den vierbeinigen Begleiter vor der Eingangstür ablegte - dem sollte ich auf dem Rückweg versichern, er habe nichts verpaßt, alleine schon die VR-Brille fest auf die Lefzen zu setzen...hätte sich nur geringfügig schwieriger gestaltet als im Falle bebrillter Exemplare der Gattung homo sapiens sapiens (schon klar: in diesem Kontext gehört es sich gelasert, das ist ja wohl das mindeste). Darum geht es in der Ausstellung nämlich: Virtual und Enhanced Reality Bilder der amerikanischen Künstlerin Rachel Rossin.
Im Tieranatomischen Theater präsentiert man mehr oder weniger regelmäßig Kunst- oder medizinhistorische Ausstellungen, geschnippelt wird da schon lange nicht mehr und auch die heute gezeigten Arbeiten hatten den (virtuellen) Schneideraum längst verlassen. Trotz aller Modernisierungen bewahrt sich das Gebäude noch Spuren der Vergangenheit, prangt draußen über dem Portal ein steinerner Löwe, dem das Fell über die Ohren gezogen wurde und „Simba Marsyas" macht wahrlich keine fröhliche Miene zum blutigen Spiel. Ähnliches setzt sich auf den Fresken innen fort, da der Mensch seine Paraderolle als Hüter, Beschützer - und Schlächter gibt.
In diesem Amphitheater hatten die Legionäre wenige bis gar keine Chancen mehr, wenn sie sich auf dem hydraulisch emporgefahrenen Podest unter neugierigen Blicken von den steil ansteigenden Rängen ringsum wiederfanden. Wir Journalisten spielten erst einmal „Reise nach Jerusalem", wurden von zwei Seiten auf die Jagd nach einer der wenigen Virtual Reality Brillen losgelassen. Hatte man endlich einen Platz ergattert und die Vorrichtung irgendwie über die eigene Sehhilfe geklemmt, hielt sie sicherheitshalber noch mit einer Hand in Position (das ging alles auf der Biennale besser, bei Loukia Alavanou's großartigem VR-Spielfilm im griechischen Pavillon!), galt es achtzugeben, nicht etwa per ungeschickten Gestikulierens das Hauptmenü zu öffnen oder, ungleich wichtiger: aufzustehen und herumzulaufen, anderenfalls man unversehens im Zentrum des Interesses unten landen und die „ER", die „Enhanced" zur „Full Reality" des „ER", Emergency Rooms, i.e. der Notaufnahme werden könnte. Zur Prophylaxe ertönt auch ein Signal und das Bild stoppt, sobald der Betrachter einen fest eingegrenzten Bereich verläßt.
Jener Film also,... diese Bilder.... Gut. ... Also, der Film. ...OK, seien wir ehrlich: Ich hab's nicht verstanden. Alles sehr unzusammenhängend, um nicht zu sagen: „wirr". Rein gar nicht narrativ, kann das nicht einmal als dreidimensionales Gemälde beeindrucken, ist eigentlich nur eine technische Spielerei mit bestimmt, sicherlich, viel Sinn und Verstand dahinter. Man darf sich das Werk (oder einen Teil dessen) auch in 2D auf der KW-Website anschauen mitsamt einer seltsamen Konsole im unteren Teil des Bildschirms, die vor Ort nicht auftauchte, evtl. ist diese Website auch nicht mit jedem Browser kompatibel. Geht es da aber nun um außerirdische Operateure, Revanche für Roswell übend? Wohl nicht, das sind nur kurze Bilder irgendwelcher Gestalten, dann fliegen wir weiter durch's Weltall, wo Chimären erstehen und vergehen, verharren und halluzinatorisch halbüberlagert im Realraum stehen. Mehrmals (? eventuell hatte das ganze auch schon wieder von vorne begonnen) erscheint der Schriftzug, „Ask your parents!"... Ja, aber was denn nur?! Das mit den Bienen und den Blumen? Fragt das Kalb die alte Kuh, ob die Transporter mit den polnischen Kennzeichen wirklich nur auf die saftigsten Wiesen fahren? Und muht die dann feine Lügen?
Im Untergeschoß, wo die Stars (oder Komparsen?) der alten Schauspiele einst für ihre fünfzehn Minuten Ruhm im Dienst von Wissenschaft und Fortschritt präpariert wurden, gibt es noch mehr Videoclips oder bloße Grafikdemos - ohne VR-Brille. Sieht jetzt gar nicht so anders aus.
Was hatten wir nicht alles zur Einführung gehört, von einer aufregenden Zeit, einer neuen Wende in Medizin und Gesellschaft, von Chips, die uns zu - womöglich noch unsterblichen - Cyborgs machen sollen, zuerst aber im Tierversuch ausprobiert werden „müssen". Auch als überzeugter Fleischfresser mag man da schlucken, sich natürlich omniphrag zu verhalten ist etwas ganz anderes als menschlich reflektierte Grausamkeit. Sagen wir es einmal so: Die Jagd ist das biologisch normalste Verhalten, zeichnet uns nicht aus und liegt gar jenseits von gut und böse, doch bereits mit der Tierzucht beginnt die Lüge, der Betrug, die Falschheit zu der nur der Mensch fähig ist (der Sündenfall, um es in altmodischer Metapher auszudrücken). Auf das höchste, oder sollten wir sagen: niederst menschliche gesteigert im Tierversuch, der Folter mit dem Wissen, einem Ziel zu dienen, dessen Sinnhaftigkeit als menschliche Schöpfung stets anzweifelbar ist, auch und gerade wo es um Leben und Tod geht. (Hinter vorgehaltener Hand erzählen Mediziner übrigens manchmal, daß auch die von Dr. Mengele geschaffenen Fakten nun einmal da sind, in der Welt und den Lehrbüchern bleiben, das ist alles sehr delikat.)
Das ganze teure Equipment, der düstere Raum mit seiner - unheilvollen? oder lebensrettenden, segensreichen Fortschritt bringenden? - Geschichte, die Geisteshaltung der Forscher: da hätte man großartiges schaffen können!
Stattdessen das hier. Als wir noch draußen auf den Einlaß warteten, hatten sich zwei Pfleger genähert, oder AiPler (auch ich habe meine Arztserien geschaut!) und gefragt, ob man „sich das mal anschauen dürfe", entschieden sich über die anstehende Pressekonferenz aufgeklärt aber, zu einem späteren Zeitpunkt wiederzukehren. Falls sie das wirklich taten...., wurden der „modernen Kunst" möglicherweise einige Fehl(?)diagnosen gestellt.
Überhaupt könnten hier während der Berlin Art Week mehr Chefvisiten stattgefunden haben als auf vielen Kassenstationen, machten die Herren Oberärzte und Professoren, deren Namen sich potentiell auch in den Mailinglisten Berliner Galerien wiederfinden lassen, gerne einen „halben Hausbesuch".
Nomen est omen: Das KW Institute ist und bleibt ein Experimentierraum, ein „Forschungsinstitut", das Kunst und Welt vivisezieren möchte und zuweilen gibt es eben nur Schlachthausabfälle zu sehen - Kunstfehler gehören zum Geschäft.
Draußen wurde ich noch Zeuge des letzten Ganges einer Biene, die bereits zu schwach zum Fliegen versuchte, das heimische Nest zu erreichen (Spoiler: das war nirgendwo in Sicht), meine wissenschaftliche Neugier gab aber alsbald dem Sinn für Pietät nach - und dem Hunger, denn es wurde Zeit für ein ganz und gar nicht veganes Mittagsmahl.
Rachel Rossin, The Man of, vor Ort: 15.-18 September, im Web: 14. September - 21. Oktober 2022, KW Institute und Tieranatomisches Institut der Charité
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