(Berlin.) Nach fast zweimonatiger Schließung „aufgrund der aktuellen Situation“ öffnete der Martin Gropius Bau im Mai wieder mit einer Verlängerung der Ausstellung Akinbode Akinbiyis sowie einer neuen von Lee Mingwei, deren (ersatzlos gestrichene) Vernissage einst für April angesetzt war. Darüberhinaus ist man noch fleißig mit der Aus- und Umarbeitung des Ausstellungsprogramms für das laufende Jahr beschäftigt, bislang heißt es hier nur: „verschoben, neue Daten in Kürze“. Den neuen Gegebenheiten hat man sich aber schon perfekt angepaßt, Gesichtsmaske und Onlinereservierung sind für alle Besucher verpflichtend, denen zudem überall im Hause Desinfektionssprays zur Verfügung stehen. ...Entschuldigung, aber ich kann einfach nicht anders: Nein, eine Tröpfcheninfektion ist keine Schmierinfektion, nein, dieser Virus kann nicht über Hautporen in den Körper gelangen, und sieht man jene Sprays nun überall auftauchen, von Museen, Galerien und anderen Läden hin zu Restaurants und Handtaschen (bei den Berliner Bäder Betrieben vertraut man nicht einmal mehr auf die keimtötende Wirkung des Chlorwassers alleine...), fällt es leicht, für die nahe Zukunft neue Probleme mit der Resistenz bislang harmloser Keime vorherzusagen, von immer weiter um sich greifenden Allergien ganz zu schweigen – Desinfektionsmittel gehören grundsätzlich nicht auf private Hände. Aber Kunst:
Lee Mingwei (westlich: Mingwei Lee) stammt aus der Republik China, i.e. Taiwan (chinesisch: das wird dann bald verschw- verschönert!) und die Transkription könnte Rätsel aufgeben: „Lee“ sollte im Deutschen wie „Luv“ klingen (schönen Gruß an die Waterkant!), traditionell hätte man daher wohl „Li” gesetzt (das erinnert jetzt an den Irrsinn um El Kaida damals: da übernahmen deutsche Journalisten fast grundsätzlich die amerikanische Schreibweise, ohne zu bemerken, daß „Al“ sich dort wie „El“ hier ausspricht). „Li“ allerdings taucht am MGB in anderem Kontext auf, dem des Ausstellungstitels nämlich. Diesbezüglich lernen wir, der Begriff entstamme dem Konfuzianismus und bezeichne ein Konzept, „Rituale und Gaben“ betreffend (genauer wird man kaum).
Lee Mingweis Kunst ist, was Menschen ohne Kunstgeschichtsstudium „konzeptuell“ nennen, und partizipativ in höchstem Grade. Der Kenner murmelt „l’art relationnel“ und nennt ihn womöglich den „Tiranavija von Formosa“, nur weniger Symposien-affin. Das verheißt unter den gegenwärtigen Voraussetzungen natürlich Probleme, Stichworte „Mindestabstand“ und „soziale Nähe“. Tatsächlich konnten einige Projekte nicht und andere nur in abgewandelter Form verwirklicht werden. Zur Beruhigung sei aber gesagt, daß dem Besucher noch genügend Gelegenheiten bleiben, seinen Spieltrieb auszuleben – Kommen Sie in Slippers/FlipFlops/Sandalen/Adiletten, denn mitspielen darf man meist nur bar-, oder besser: „sockfuß“! Zum Beispiel, wenn es gilt, einen Brief zu einem der vorgegebenen Themen „Entschuldigung, Dankbarkeit oder eine Einsicht“ an den Künstler oder eine Person Ihrer Wahl zu schreiben. Posten Sie ihn dann halböffentlich - nicht (nur, mobil, sofort) in einem antisozialen Netzwerk, sondern (mindestens auch) – für andere Ausstellungsbesucher in einer von drei aufgestellten „Wahlkabinen“, auf Wunsch im mitgelieferten Umschlag, den das allgemeine Briefgeheimnis schützt (mehr oder weniger). Bei Durchsicht der offenen Briefe fällt auf, daß eine Mehrheit der Besucher die Aufgabe sehr ernst nimmt, möglicherweise bleiben aber auch nur die ernstgemeinten länger hängen als bis zum nächsten Rundgang einer Aufsichtskraft.
Weiter geht es in einem improvisierten Wohnzimmer, größer als das Ihre, leben Sie nicht in Berlin sondern einer echten Metropole (allfällige Kunstsammler ausgenommen). Das Verständnis der Installation mag ein wenig Zeit in Anspruch nehmen: Unter der Glasplatte der neudeutsch: „coffee tables“ hat der Künstler keine neudeutsch: „coffee table books“ versteckt, sondern Bestandteile der Sammlungen zufällig ausgewählter Mitmenschen*innen, (das muß jetzt einmal sein, betreibt der MGB die genitale Sprachverstümmelung doch in einem Ausmaß, daß man aufmerkt, liest man in einem Wandtext nicht etwa von „Gegenständen*innen“, und die Umbenennung in Martin*a Gropius*a Bau*tin nur eine Frage der Zeit scheint). Die nicht unbedingt Kunstsammlungen im engeren Sinne werden in regelmäßigem Wechsel präsentiert, zum Zeitpunkt unseres Besuches waren es Engelsfiguren. Von Zeit zu Zeit sollen auch die Sammler selbst vorbeischauen und Fragen beantworten, sofern das die der „aktuellen Situation“ geschuldeten Reisebeschränkungen erlauben. Die Installation sei, so heißt es, inspiriert von dem Stipendium des Künstlers an einem nach seinem bedeutendsten Mäzen benannten amerikanischen Museum, wie das jenseits des großen Teichs seit jeher üblich ist und auch in Europa immer mehr wird.
Im selben Raum finden wir noch eine für Lees Gesamtwerk untypisch anmutende Arbeit, ein streng formalisiertes Tagebuch auf Postern jemandes, der sein Leben, Tisch und Bett, mit einer nicht näher identifizierten „Lily“ teilt: “Day 14 20:31 Showering with Lily” “Day 38 10:20 Talking with Lily” “Day 88 16:06 Shitting with Lily”, ... (das wird noch unanständiger). Unmöglich festzustellen, ob es sich hier um eine zwei- (gar vier-?!)beinige Elisabeth oder eine Japanese Peace Lily handelt. Mooooment: Sagten wir gerade „Japan“? Die Kawara-ne zieht weiter (aua, Wortspiel)? Das ist schon sehr repetitiv.
Mit ein wenig Glück dürfen Sie auch einer von mehreren traditionellen Performances beiwohnen, sei es ein Tänzer beim bewußt meditativen Fegen des Bodens oder eine Opernsängerin beim Vortrag eines Schubertliedes. Haben Sie im letzteren Fall kein Glück und der ausgehängte Aufführungsplan verrät eine mehrstündige Pause, schauen Sie doch einfach durch das Fenster daneben einem städtischen Müllwerker beim meditativen Fegen des Parkplatzes zu. Hier soll nun nicht jedes einzelne Werk angesprochen werden, einige Beispiele mehr mögen aber interessant sein. So rief Lee Mignwei dazu auf, ihm Kleidungsstücke zuzuschicken, mit denen der Eigentümer eine besondere Erinnerung an geliebte Menschen oder die eigene Kindheit verbindet. Wir finden sie samt ihrer Geschichte in offenen Paketen auf einer Plattform drapiert, treten hinzu – keine Schuhe!, maximal drei Personen gleichzeitig! -, und öffnen ein, zwei oder mehr weitere, verschnüren sie wieder streng nach Vorschrift (eine Anleitung für den korrekten japanischen Knoten findet sich auf einem – nicht „Beipack-“! - Zettel, dennoch scheiterte ich beinahe). Christo-Schwingungen hier (RIP)? Soziale Interaktion in jedem Fall, und die Zuschreibung von Bedeutung und Geschichte an Objekte.
Drei frisch gemachte Betten mit den Habseligkeiten von – nicht wie geplant Durchschnittsmenschen, sondern, „der Umstände halber“: - MGB-Mitarbeitern auf den Nachttischen thematisieren zumindest implizit eine besondere Form der Selbstinszenierung, ein Bild seiner selbst, das man gern mit der Welt teilen möchte – eine Art museales Instagram (kommt schon, auf euren tatsächlichen Nachttischen findet sich doch bestimmt noch anderes, und wenn es nur weniger literaturkanonische Bücher sind!), jetzt aber bitte keine faden Influencerwitze zu Influenzazeiten.
Weniger performativ, faltete Mingwei Lee in den 1990er Jahren Zehn-Dollar-Noten zu Origamifiguren und verteilte sie an mehr oder minder zufällig ausgewählte amerikanische Bürger, manche arbeits-, gar obdachlos, andere als Programmierer, Manager, usw. in Lohn und Brot stehend. Wir betrachten drei „Gruppenphotos“ (Collagen) zu Zeitpunkt T0: Übergabe des Objekts, T+3: drei Monate später, da manch ein Papier für Waren oder Dienstleistungen eingetauscht wurde, welche nun bildlich seinen Platz – und gar den des Namens seines Eigentümers - einnehmen, und schließlich T+12, ein Jahr später. Der Obdachlose zählte zu jenen, die das Werk bis zum Ende (und darüber hinaus) behielten. Dies läßt sich auf mindestens zwei Arten interpretieren: War er tiefbeglückt von der Gabe eines Fremden, der ihm ein wenig Aufmerksamkeit und gar Respekt schenkte, mit einem Kunstwerk, einem Objekt mithin, das wie kaum ein anderes für geordnete Verhältnisse - mindestens! - der oberen Mittelschicht steht, und nun Wärme, Licht und Freude in seine mühevolle Existenz bringt - oder dachte er ganz kapitalistisch, glaubte fest an den allfälligen Durchbruch Lees auf dem Kunstmarkt, und dann, ja dann! würde das Ding zum Lottoschein werden, ihm den sozialen Aufstieg aus der Gosse in die Villa am Strand garantieren, ein perfektes Investment und sogar gratis – die Chancen-Risiken-Analyse fällt selbst in größter Armut eindeutig aus?
Ihre Interpretation mag etwas über Sie selbst verraten, bestimmt aber verweist das Werk auf die Zuschreibung von Sinn und Bedeutung an Kunst (und) Gegenstände.
Kunst und -sammeln begegnen uns auch noch einer weiteren Serie: Da finden wir Steine mit ihren Nachbildungen von Künstlerhand (/nach dem Design des Künstlers), sobald jedoch jemand ein Set von Lees Galerie erwirbt, steht er vor der Entscheidung, welcher Teil zu zerstören ist - einer muß gehen! ...Das sollte nicht allzu schwerfallen, oder können Sie sich im Ernst einen Sammler vorstellen, der nicht die Nachbildung freispricht und das Original verwirft? Natur und Kultur, Sammeln und Schöpfen, geologisches und menschliches Erzeugnis (und sage jetzt niemand „Readymades“!) ... Stop: Hier stimmt etwas nicht. MGBs Bildlegenden besagen „aus der Sammlung von...“ – warum durften die beide Hälften behalten?!
Für ein anderes Projekt, das zumindest nicht den aktuellen Betrachter als Performer bemüht, besuchte Lee Menschen rund um den Globus, ließ sich von ihnen ihren Wohnort zeigen und sammelte dabei Souvenirs ebenso wie Photos und Geschichten für eine Diaschau – alles in zweifacher Ausführung, je aus der Perspektive des Gastes und des Gastgebers. Das erinnert an AirBnB und ihre „experiences“, thematisiert darüberhinaus Tourismus und den Konsum fremder Kulturen (Themenrestaurants und Datenbanken stellen wohl die einzige Zukunft aller Kulturen in globaler „Gleichheit“ dar). Und immer so fort in einer umfangreichen Ausstellung, die viel zu sehen, lesen und gar denken gibt!
Lee Mingwei, Li, 27. März (virtuelle Ausstellung)/11. Mai (physische Ausstellung)-15. Juli 2020, Martin Gropius Bau
World of Arts Magazine – Contemporary Art Criticism
P.S.: Treten Sie nicht hinter den schwarzen Vorhang am Ende, einen von der Art, wie sie sonst Filmvorführungen in Kunstausstellungen abtrennen: dahinter sind nur Kisten und eine Leiter, und nicht einmal die Reste einer Performance/Installation, die abgesagt werden mußte „aufgrund der gegebenen...“ – Sie kennen das Lied! Nebenbei, und damit noch einmal zurück zum Thema des Jahres: Nutzt man das warme Wetter an einem Wochenendabend zum neunzigminütigen Spaziergang hin und her des Kreuzberger Maybachufers (das seltsamerweise immer noch nicht umbenannt ist: der Herr war doch Klimaverbrecher!) auf der Suche nach einem Sitzplatz vor einem der Cafes (erfolglos) kann man feststellen, daß Berlin allen Sprays und allem Getöse zum Trotz klammheimlich, still und leise längst zum Prinzip der Herdenimmunität übergegangen ist.
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