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Christian Hain

J.S. präsentiert... J.S.: Jeremy Shaw führt Julia Stoschek zurück in die Zukunft


(Berlin.) Es ist alles sehr verwirrend und zur Abwechslung rede ich einmal nicht über diesen Virus, nein, als der noch gemütlich im Reich der Mitte schlummerte, schockte Julia Stoschek uns schon mit der Ankündigung, ihre Sammlung nach Düsseldorf abzuziehen, wo sie seit Jahren einen zweiten Ausstellungsraum unterhält. Der mediale Aufschrei blieb nicht auf die Bundeshauptstadt beschränkt, deren Kulturpolitik es lautstark und printschwarz zu lamentieren galt – grundsätzlich zu Recht, wenngleich das konkrete Beispiel sich als Ente, oder neudeutsch: „Fake News“, entpuppen mag. Oder auch nicht, jedenfalls erreichte uns kurze Zeit später eine weitere Pressemitteilung des Inhalts, daß man einen neuen Direktor für ebenjenen, angeblich bald schließenden, Berliner Kunstraum bestellt habe. Am Ende des Tages könnte alles bloß „so ein Cry-for-Help“ Ding gewesen sein (richten Sie sich auf viele Zitate heute ein, aus Film und anderen Quellen und zumeist dem dystopischen Kanon entlehnt) – ob es wohl zu weit hergeholt wäre, in diesem Zusammenhang an die Medienexpertise in Fräulein Stoscheks Haushalt zu erinnern, ihre fruchtbare Beziehung in die Springersche Chefetage ist ja allgemein bekannt?


Die vorherige Direktorin verließ sie für einen anderen, noch ein wenig bedeutenderen und noch ein wenig reicheren Kunstsammler als es die designierte Erbin eines Autozulieferimperiums ist, Hasso Plattner nämlich, der seine Headhunter aussandte zwecks Bemannung eines zweiten Museums in Potsdam, dessen Eröffnung man für das nächste Jahr anvisiert und das sich „DDR- und Zeitgenössischer Kunst“ widmen soll (wahrlich eine progressive Kombination angesichts der politischen–gesellschaftlichen Lage nicht alleine in Berlin). Man addiere den Rückzug Thomas Olbrichts und seiner me Collection, der ganz zügig und konsequent abgewickelt wurde, unter Übergabe der Räumlichkeiten Tür an Tür mit dem KW Institut an eine obskure Sammlung japanischer Folklore (diese Information nur unter Vorbehalt, da jene die leerstehenden Räume schon vor geraumer Zeit hätte beziehen sollen) und begreift, es war ein vielversprechender Frühling für jedermann mit Interesse an Klatsch und Tratsch aus der Berliner Kunstszene... bis unser aller Aufmerksamkeit dann von viral gehender chinesischer Kleinstmigration gekapert wurde (oha, fürchterliches und politisch höchst unkorrektes Wortspiel!).


Stand jetzt residiert die Julia Stoschek Kollektion Berlin noch immer dort, wo sie dies seit Jahren tut und sieht sich immer noch nicht übertriebenem Wohlwollen der lokalen Potentaten ausgesetzt (privater Wohlstand zählt nicht unter die obersten Planziele des neuen Berlins), noch seiner Medien, welche die Sondervorführung vor Eröffnung einer neuen Ausstellung wiederum weitgehend ignorierten. Unbenommen aller neunormalen Einschränkungen der Teilnehmerzahl an einer jeden Versammlung sah man sich genötigt, zwei Tage zuvor noch eine „freundliche Erinnerung“ in den Presseverteiler zu schicken und motivierte damit zumindest einen gewissen ganz unbedeutenden Blogger, der die ursprüngliche Einladung komplett vergessen hatte, zu einem Besuch. - Lassen Sie mich das an dieser Stelle gleich festhalten: Es hat sich gelohnt; jene, die wegblieben, waren im Irrtum.


Wie wir erfahren, teilt der kanadische Künstler Jeremy Shaw die Leidenschaft der Sammlerin für eine der letzten Branchen der Unterhaltungsindustrie, die auch heute noch „gelockdowned“ sind und das selbst in Berlin, wo das Leben mindestens unter der Hand längst zur Normalität zurückgekehrt ist, erwähnter Versammlungsbeschränkungen zum Trotz: Clubbing. (Bei der wohl einzigen anderen verbliebenen Ausnahme handelt es sich um das Geschäft mit der käuflichen - ähem: sozialen Nähe und wer die üblichen Abkürzungen nimmt auf seinem Weg ins Galerienviertel der Potsdamer Straße, wird die Verzweiflung in immer aggressiverer Neukundenacquise bemerken, „ABÄRR WARRRUUM NIIICHT?!?!“ - das passiert mir sonst nur am Strand... nicht! -, da man seinen Beschäftigungen wiederum in Illegalität nachgeht. Aber zurück über die Gürtellinie: ) Das besagte Hobby zeigt sich, bzw. „erklingt“ deutlich im Soundtrack zu Shaws Filmen, die wir hier heute vorfinden.


Die Quantification Trilogy („Quantifikationstrilogie“) mit einer Gesamtlaufzeit von über neunzig Minuten hätte der Künstler ebensogut bei der Berlinale einreichen können, gibt es dort doch eine eigene Reihe für alles, stattdessen ist sie in Berlin nun erstmals an der JSC zu sehen. Hier - in der Stadt, nicht der Kollektion - unterhält Shaw seit über zehn Jahren seinen Hauptwohnsitz und wir können uns eines Kommentars nicht enthalten: Wenn ein Künstler es nach über einer Dekade im (selben) Ausland noch nicht wagt, nur ein einziges Wort in der Landesprache zu prononcieren, wirkt es (im vulgärsprachlichen, nichtkunsthistorischen, Verständnis) fast schon surreal, wenn Kuratoren im Kontext seiner Ausstellung kritisch auf „Globalisierung“ und „Machtstrukturen“ zu sprechen kommen... aber gewisse Label und Worthülsen gehören wohl zum Pflichtprogramm. Dabei ist Jeremy Shaw sicherlich nicht der typisch „ignorante Ami im Ausland“ (respektive „Kanadier“).

Seine Hauptinteressen wirken altmodisch, waren zuletzt - letztmals überhaupt? - in den 1960er und '70er Jahren en vogue und sind heute ganz vergessen, namentlich die Sehnsucht nach und Setzung von Spiritualität in einer materialistisch-technologiehörigen Welt. Wohl kaum würde Shaw Anstoß nehmen an der Benennung als „filmender Wiedergänger Aldous Huxleys“, da wir während des Einführungsvortrags Schlagworte gleich „Transzendenz“ und „verändertes Bewußtsein“ notieren – letzteres nicht „Soma-tischen“ Ursprungs, sondern alleine mit den Mitteln des Tanzes und enthusiastisch-religiöser Riten erreicht.

Seine, die Bildsprache von Heimvideos und B-Movies des Mittzwanzigsten Jahrhunderts zitierenden, jene teilweise gar direkt samplend und somit eine mögliche Zukunft in den Zerrspiegel der Vergangenheit stellenden, Werke beschreibt man an der JSC als „parafiktional“ und meint damit einen Mix aus Science- und zu Tode amüsierender Dokufiktion („SciDoFi“ vielleicht, „Sei Doofi“ ausgesprochen?).


Die Teile der Reihe laufen in naht- und endloser Wiederholung (jedenfalls bis die Kollektion des Abends schließt und eine Praktikantin mit der Fernbedienung die Runde macht...) und können, wie explizit vorgegeben ist, in beliebiger Reihenfolge geschaut werden. Dabei schildern sie ganz klassisch linear eine mögliche künftige Menschheitsgeschichte hin zu einem „Quantifikation“ geheißenen „Zustand totaler Rationalität“, während Minderheiten unter unseren unsterblichen Cyborg-Nachfahren in periodisch auftretenden spirituellen Renaissancebewegungen die konservative Hinwendung zu geistigen Schöpfungen und Glaubenswerken propagieren, das wiederzubeleben, was „lost in transformation“ gewesen sein wird, aber ich greife vorweg. In chronologischer Reihenfolge, mithin umgekehrt zu ihrem Entstehungsdatum:


1. I Can See Forever („Ich kann für immer/das ‚Für Immer’ sehen“, 2018), am Beginn von Shaws Schöner Neuer Welt vierzig Jahre in der Zukunft spielend – zweifelsohne ist dem Künstler die biblische Faszination mit jener Zahl in temporären Kontexten bewußt -, porträtiert den letzten (gar einzigen?) Überlebenden eines Experiments, das Menschen „Maschinen-DNS“ injizierte... – Nein, Sie haben recht, das ist Unfug und tatsächlich eine contradictio in adiecto: nur biologische Dingens haben DNS, so eine gängige Definition von „organisch“ (bzw. die empirische Realität und bloß wenn man noch einige Schritte weitergeht in den Mikrokosmos, wird alles Atom, Licht, Energie und sonstwas, belanglos), aber sei’s drum: Fern jeglicher Selbstidentifikation mit Langscher Maria und tänzelnden Kraftwerklern, wählt unser Überlebender sich die Derwische vergangener Zeiten zum Vorbild. Dieser Plot wird in überaus „künstlerischen“ Bildern und Interviews präsentiert, regelmäßig unterbrochen von streng choreographierten und mithin sehr roboterhaft anmutenden Tanzeinlagen zu nicht nur elektronischer, sondern auch Gospelmusik (das ist interessant, handelt es sich hier wie bei den zahlreichen Breakdance-Elementen doch um „lebende“ Kultur, die neuglobal „mattert“, ganz dem Phänotyp des Schauspielers entsprechend - sollte etwa auch die Sehnsucht nach in Gleichheit aufgelöster Identität eine Rolle spielen?). Der Film endet mit dem Flug durch einen Neunzehnhundertachtziger Jahre Videospielvektortunnel, dann Aufnahmen eines Pärchens beim Fernsehen und endlich einem Riß in der Matrix, verpixelten Stop-Motion Bildern, da das System überlastet scheint.


2. Liminals (2017): In „drei Generationen von heute“ - wie immer das in geläufigere Einheiten umzurechnen sein mag - kehrt die ominöse „Maschinen-DNS“ zurück und das Update ist wohl mit weniger Bugs behaftet als die Beta, da uns nun mehr Überlebende begegnen. Im Bestreben, die Evolution in die eigene Hand zu nehmen und wenn nicht Nirwana, so zumindest den „Paraspace“ zu erreichen, bei gleichzeitiger Wiederbelebung vergessener Rituale und psychedelischen Dance–to-Trance (gab’s da nicht auch Injektionen und Rastafarians in Neuromancer?) greift eine Gruppierung willig zur Spritze. Konkret gleicht das Aufnahmen einer per Zeitmaschine auf einen Rave versetzten Hippiekommune, wobei die Ausstellungsplakate mit Nahaufnahmen ihrer doch sehr ekstatischen Gesichter sich durchaus in Richtung Love-In oder Golden Age ähem: Adult Movie, bewegende Erwartungen wecken mögen, und während der Soundtrack zwischen Ambiant und Deep T-...rance changiert, haben die Tänzer nicht einmal mit gepanschtem Kool Aid o.ä. experimentiert.

Die monochromen Bilder erreichen ihren Höhepunkt in zügellosem Stroboskopgeflacker und sollten Sie unter angelegentlichen Epilepsieattacken leiden, mögen Sie hier ganz neue, bislang unvermutete, Verwendungsmöglichkeiten für die obligatorische MNBD (klingt wie MDMA, meint aber „Mundnasenbedeckung“) finden und sich diese kurzerhand über die Augen ziehen.


3. Abermals 300 Jahre vorgespult und hinter einem Vorzimmer mit Digitalphotographien hingebungsvoll in's Gebet versunkener Gesichter („I want to believe“?) plaziert, nimmt eine Pseudodokumentation uns mit auf eine Reise in die Area 51 – nein, doch nur „23(!)“, „Area 23“, eine Art Leprakolonie nicht Covid-25 Infizierter, sondern von „Humanem Atavismus Syndrom“ Betroffener (jetzt um Gottes Willen nicht „unter ... leidenden“ schreiben, könnte sonst „diskriminierend“ wirken!), auch „Quickener“ - so der Filmtitel, 2014 – geheißen, und bestimmt sollen wir da an Quäker, Shaker und andere protestantische Gemeinden der Vergangenheit denken.

Das verwendete Kürzel für jene „Kondition“ lautet - auch im englischsprachigen Original - „HAS“ und vergessen Sie für einen Augenblick meine obige Anmerkung: Jeremy Shaw versteht zumindest einige Brocken Deutsch, darunter potentiell auch „Hass“ (also eigentlich „Haß“, aber unser heißgeliebtes „ß“ wurde bekanntlich schon wegrationalisiert in Diensten von Globalisierung und effizienter EDV-Optimierung). Haß also, ein endemisch menschliches Phänomen, das künstlicher „Intelligenz“ und dem Schwarm im allgemeinen abgeht - und ohne Haß auch keine Liebe. Möglicherweise läuft am Ende alles auf diese Frage hinaus: Ist es das wert?


Während wir wortwörtlich von „Logik“ hören, erspähen wir verrottende Hütten und Autos aus der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts, die es mirakulöserweise ins 26. Jahrhundert AD geschafft haben, aber wir wollen nicht päpstlicher sein als der Papst: mit derlei Lappalien hat sich noch kaum je ein dystopischer Filmemacher abgegeben (sag’ „Bonjour J.L. Godard“, Alphaville ist allerdings ein lächerlicher „SchleFaZ“, m.M.n.)... Haben Sie einmal den Endsechziger Song In the Year 2525 einer Band namens Zager&Evans gehört? Ein Song mit Nietzschescher Wendung am Ende=Anfang, schlag' nach unter „Ewiger Wiederkehr des Immergleichen“. Jeremy Shaw hat das bestimmt (und nein, das ist auch nicht meine Generation, aber ein bißchen pophistorische Allgemeinbildung kann niemals schaden).


Kleine Randnotiz: In allen drei Werken passen die omnipräsenten Untertitel nicht auf das gesprochene Wort und ja, ich bin mir sicher, dabei handelte es sich nicht nur um ein Problem mit dem eigenen clubgeschädigten Gehör. Alle dem Augen-, oder vielmehr Ohrenschein nach englischsprachigen Dialoge klingen mehr noch als mumble-rapped: gänzlich unartikuliert. Wie wir anderswo gelernt haben: „...aber seine Muttersprache war zu einem Kauderwelsch aus Hinterwäldlerdialekten, Ghettoslang und allerlei Grunzlauten verkommen“ (so die durchaus gelungene deutsche Synchronisation von Mike Judds komödiantischem Meisterwerk Idiocracy). Die einzige Ausnahme in der gesamten Quantifikationstrilogie begegnet uns hier, sozusagen „right here, right now“, wie der Myna Vogel auf Huxleys Island krächzt, später als Sample in einem erfolgreichen Elektropop Track der Endneunzehnhundertneunziger Jahre verwurstet, da die über das Phänomen der Quickener berichtende Stimme aus dem Off sehr verständlich spricht und folgerichtig auch gar nicht untertitelt wird.

Der/die/das neue Machthaber*innen*kollektiv (männlich/weiblich/digital) trägt im übrigen den Namen „The Hive“, zu deutsch „Der Schwarm/Bienenstock“, und mag Star Treks Umsetzung der sozialistischen Utopie in Form des Borgkollektivs ähneln (oder auch anekdotisch auf Bernard Mandevilles Fable of the Bees von 1714 verweisen); dem Augenschein nach bewahrt man sich einen wissenschaftlich-neutralen Standpunkt, da wir hier keine Spur von aktiver Verfolgung der Quickener entdecken – letztlich wäre aber auch jedes Gefühl von Bedrohung oder Sorge unwissenschaftlich...


Schließen wir für heute mit einem Zitat aus der Feder von Jeremy Shaws Namensvetter George Bernhard, dem man nebenbei bemerkt einen Hang zu einer anderen, ganz „umstrittenen“ – i.e.: interessanten – Dystopie nachsagt, nämlich Edward Bulgers The Coming Race:

„... Religion ist die Mutter der Skepsis: Wissenschaft die der Leichtgläubigkeit. Nichts würden Menschen heute nicht glauben, wird es ihnen nur als Wissenschaft präsentiert, und nichts ebenso spontan verwerfen, tritt es unter dem Mantel der Religion auf. So begann ich selber und ende damit, jede wissenschaftliche Äußerung mit gehörigem Mißtrauen zur Kenntnis zu nehmen, während ich allen Inspirationen der Propheten und Dichter mit höchstem Respekt begegne. Der Paradigmenwechsel von religiöser Weissagung zu wissenschaftlicher Erfindung bedeutet nur allzu häufig einen Rückschritt von vergleichsweise harmlos-romantischer Schwärmerei zu übelwollender und gar mörderischer Quacksalberei...“ (aus dem Vorwort zum Simpleton of the Unexpected Isles, „Einfaltspinsel der unerwarteten Inseln“.)


Wir wissen nicht, ob Jeremy Shaw an die Möglichkeit einer Aussöhnung und gar dialektischer Synthese in Form von „rationaler Spiritualität“ – naja: „glaubt“, aber lassen Sie uns niemals aufhören, gute Kunst missionarisch zu verbreiten. Und auch in diesem dürfen Sie mir vertrauen: Shaws Kunst und Gedankengänge sind gleichermaßen faszinierend.


Jeremy Shaw, The Quantification Trilogy, 5. September-29. November 2020, Julia Stoschek Collection

 

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