(Berlin.) Wie inzwischen allgemein bekannt sein sollte, ist ein in Bayern beheimatetes Unternehmen der Automobilindustrie stolzer Hauptsponsor der BAW und des GWB. Möglicherweise haben Sie auch hier schon einmal über den Preis der Nationalgalerie gelesen, der seit achtzehn Jahren existiert und seit deren dreizehn von demselben Unternehmen unterstützt wird (wir wissen nicht, wann Frau Quandt die Präsidentschaft der Freunde der Nationalgalerie übernommen hat, aber geschah das vielleicht im Jahr 2005, rein zufällig?).
2017 wurde die polnische Künstlerin Agnieszka Polska ausgezeichnet und gewann – nein, kein Auto, das ist Kunst, kein Tennisturnier! - das Versprechen einer Ausstellung im Museum Hamburger Bahnhof, dazu höchstens noch ein T-Shirt (“M Powerrrrr” oder „Reihensechser sind sexy“?). Lange mußte sie sich nicht gedulden, findet die Nominiertenschau doch im jährlichen Wechsel mit einem Solo des amtierenden Siegers statt. Polska entschied sich, einen Kurzfilm zu zeigen, den sie – der Mode gemäß - in einer großartigen (oder zumindest großen) Installation verpackt.
Der Plot ist nicht über die Maßen komplex, und auch der historische Hintergrund schnell erzählt: Im Jahre 1534 vertraute König Władysław II von Polen dem Höfling Mikołaj Serafin die Verwaltung der polnischen Salzbergwerke an, woraufhin jener sehr modern anmutende Managementstrategien einführte. Unter anderem weil die Minen unter seiner Leitung keine Leibeigenen, sondern Lohnarbeiter und Subunternehmer beschäftigten, werden die folgenden Jahre allgemein als ein frühes Beispiel des Übergangs von Feudalsystem und -wirtschaft zu kapitalistischer Gesellschaftsordnung auf europäischem Boden interpretiert (oder auch einer Rückkehr zu paneuropäischen kapitalistischen Strukturen - schon Ötzi starb den Tod eines Handlungsreisenden).
Ausgangspunkt des Films ist der Auftrag an einen berittenen Boten, einen Brief von König an Kapitalist zu befördern, der den Lauf der Geschichte verändern könnte, denn... Gründe. Nichts genaues weiß man nicht, vertrauen wir der Künstlerin einfach mal. - Und sagen Sie jetzt nicht, die Jobbeschreibung klinge verdächtig nach einschlägigen Angeboten an junge Frauen polnischer, oder allgemein osteuropäischer Herkunft: „kann nicht lesen und schreiben, aber viel reiten.“ Morgens halb zehn im Wald genießt der Bote ein Mahl aus mit Mutterkorn verunreinigtem Roggenbrot, und – nein, allerdings trifft er wahrhaftig auf einen herumstreunernden „Dämonen“, oder Zeitreisenden, oder Systemadministrator dieser Welt/Realität/Dimension/-es Videospiellevels. Die Stimme, die alsbald auch ein Gesicht annimmt, berichtet ihm – in Grundzügen, nicht Details – von einer Zukunft, die Salz nicht höher wertschätzt als (unseltene) Erde und da Menschen nicht dem Adel sondern gesichtslosen Großunternehmen dienen, worin ein gewaltiger Fortschritt liegt, weil -, nein viel gewertet wird hier nicht. Abgesehen von der Bezeichnung „Dämon“; sollte das nicht besser „Des-Überzeugungskräftigen-und-sich-beständig-neue-Formen-der-Selbstbestimmung-erwählenden-migrationhintergründigen-Wesens-mit-Wurzeln-in-Regionen-in-denen-Temperaturen-(möglicherweise)-noch das-Maß-aller-wissenschaftlich-zu-erwartenden-post-Klimawandel-Bedingungen-übersteigen Hirn heißen statt des doch sehr despektierlichen The Demon’s Brain (“Des Dämons Hirn”)?
Und mehr noch, handelt es sich nicht gar um ein...-e Wesin? Die Stimme zumindest klingt, als identifiziere er/sie/es sich selbst – und verlange eine solche Identifikation mithin auch von anderen - als Benutzerin Doppel-X-Chromosom-gelabelter Sanitärräume. Dennoch verwendet unser Reiter in einer geradezu schockierenden Demonstration mittelalterlichen Manieren das englische Anredepronomen „Sir“ (warum eigentlich Englisch, könnte man geneigt sein zu fragen, wäre mittelhochpolnisch(?) mit magischen Untertiteln nicht a) der Situation angemessener und b) der Atmosphäre nur förderlich?).
Und könnte es sich im Pudels Kern gar um ein Gespenst handeln, ganz genau: jenes Gespenst, das in Europa umgeht und niemals ohne seinen Gegensatz existieren könnte – in der Tat hören wir im Kontext der Ausstellung auch von Bestrebungen der Salz-Arbeiter, eine Gewerkschaft gegen Serafin zu gründen. ... Auf der anderen Seite, ein traditionsreicher Fabrikant ultraluxuriöser Automobile, heutzutage nur noch eine Filiale des Ausstellungssponsors, pflegt seit fast einem Jahrhundert die Gewohnheit, seine Modelle mit der Sphäre des Übernatürlichen entlehnten Bezeichnungen zu versehen. Das Werkverzeichnis strotzt nur so von Phantoms (Phantomen), Ghosts (Gespenstern), Spirits (Geistern) und Wraiths (Erscheinungen). Aber niemals ein Demon (Dämon).
Das (Un-)Wesen kehrt wieder in Rabengestalt, möglicherweise ein Querverweis auf die altgriechische Mythologie, Apollos Haustier ein Bote des Todes (und eher nicht auf aktuelle popkulturelle Phänomene – wer weiß wovon die Rede ist, schicke einen Boten zur Mauer). Im weiteren Verlauf der Unterhaltung erwähnt es noch die spontane Dekonstruktion des vormaligen Reiters, nun Fußmannes Pferds und nennt dieses ein „3D Obekt“. Dem Boten ist es denn auch tatsächlich nicht entgangen, wie „sein Kopf sich losgelöst hat und weggeflogen ist.“ Immer ärgerlich, wenn das passiert.
Viele von uns werden schon die Wege eines „mailer daemons“ gekreuzt haben, arglistige Geschöpfe, die in den Tiefen der Informationstechnologie auf nichtsahnende Opfer lauern, allzeit bereit, eines Nutzers Nachricht abzuweisen (nein, nie gehört? Ach mein unschuldiges Kind, warte nur auf deine erste eigene Mailingliste, du wirst mailer daemons hassen wie GDPR) - aber das hier ist ein ganz anderes Niveau!
Am Ende verweigert der Bote die – unsere! (für die geistig regloseren) – Zukunft und indes der Rabe griechischen Tragödienchören gleich immerzu nicht „Nimmermehr“, sondern „Es ist nicht zu spät“ kräht, verbrennt er den Brief ohne weiter Umstände.
Klingt wie ein Staffelfinale von Supernatural? Es ist künstlerischer, ein wenig zumindest.
Treten wir einen Schritt zurück, hinter einen der voluminösesten Vorhänge, den wir seit langem gesehen haben und der den Beginn dieser Ausstellung markiert. Zweifellos einer von Berlins größten Vorhangaufträgen der jüngeren Vergangenheit, ein Unternehmen für Theatereinrichtungen – gibt es noch einen Markt für Unternehmen für Theatereinrichtungen? - wird hier ein sehr gutes Geschäft gemacht haben. Wer ihn durchschreitet, findet sich im Vorzimmer zur Ausstellung mit einer zur Pinnwand umfunktionierten Mauer wieder, an der zeitgenössische Informationen über den Salzabbau im mittelalterlichen Polen auf aus heutiger Perspektive geschriebene Essays treffen. Sie könnten dies überspringen und sich direkt in medias res stürzen, aber Achtung: Vorabinformationen sind unabdinglich zum Verständnis des Folgenden.
Das Fahrtgeld tut dem Hamburger Bahnhof gut, die technische Ausstattung der Ausstellung ist perfekt (Siebener-Niveau, kein New Mini). Aufgeteilt in kurze Szenen, über eine Handvoll riesiger Leinwände verteilte Schnipsel, läuft der Film in einem endlosen Kanon. Langsame Schwenks, Großaufnahmen von Gesichtern, das ist Kunst, ganz klar. In der Mitte des Raumes plazierte Matratzen können als nette Geste gelten, ihr Zweck erschöpft sich allerdings darin, die schon von der Vorführungsweise geschaffene Illusion eines weitaus längeren Films als er tatsächlich ist zu befördern. Wer sich gezwungen sieht, eine Erfahrung von maximal zehn Minuten im Liegen zu genießen, wird es gar nicht nicht bis hierhin schaffen, der Weg zum nächsten Parkplatz/der nächsten Haltestelle ist mindestens ebenso lang.
The Demon’s Brain/Des Dämons Hirn besteht auch nicht aus mehreren Teilen, oder zumindest zwei Hälften, dies ist eine Einzelausstellung im Wortsinne, eine Ein-Werk-Schau. Theoretisch könnte man das auch handhaben wie bei dem fast vergleichbaren Pariser Prix Marcel Duchamp, mit einer vollwertigen, i.e. Multi-Werk-Ausstellung in einem bedeutenden Museum (wenn auch nur im Seitenflügel, nicht auf der Chef-d’œuvre-Etage des Pompidou).
Zurück zu unserer Geschichte, und ein wenig Interpretation: Kann ein Brief so wichtig sein? Selbst wenn im Königreich Polen ein eklatanter Mangel an analphabetischen Reitern herrschte, und niemand ein zweites Schreiben hätte befördern können, wenn wir damit auch die Möglichkeit ausschließen, daß ein solcher von Anfang an eingeplant war und unabhängig auf die Reise geschickt wurde - ohne dämonische Reisebekanntschaft -, so bleiben doch viele Fragen offen.
Die Story ist simpel und wirkt nicht überaus originell, aber zumindest manche Aspekte sind einer näheren Betrachtung würdig. Vieldeutigkeit wird hier großgeschrieben, am Ende des Tages (bitte untertänigst um Entschuldigung für diesen BWL-Sprach-Auswurf, wenngleich er auch zum Thema paßt) ist das ein „Dämon“ und aufrichtiger Ratschlag für den Boten – und uns – sollten nicht unbedingt in seiner Natur liegen. Was wirklich in Des Dämons Hirn vor sich geht, seine Motivationen und Ziele, bleibt uns in letzter Konsequenz verborgen. Oder ist auch das wieder nur ein Vorurteil? (Schätze, ich brauche noch einen polnischen Vodka an dieser Stelle.) Ganz allgemein betrachtet scheint es nie eine gute Idee zu sein, die Zukunft zu enthüllen – sofern das überhaupt möglich ist, ohne sie zugleich zur bloßen Potenz zu reduzieren, es sei denn die Enthüllung und folgende Änderung waren bereits eingeplant, oder existierten sowieso schon immer in einer weiteren Bubble des Multiversums etc.
Konnte ein einfacher Bote einmal den Lauf der Geschichte ändern – gewaltlos wohlgemerkt (gegen Menschen), und lautet die Antwort „ja“: Könnte das der größte Verlust sein, den wir im Übergang vom Menschen zur Menschheit erleiden? Die guten alten Zeiten, von Helden und Schuften...
Warum um alles in der Welt hat sich Agneszka Polska eigentlich entschieden, einen Pferdekopf (nicht körperlos, der liegt bloß im Schatten – kein Remake des Paten hier!) für Ausstellungsposter und andere -werbung zu verwenden? Der Lippizaner (so heißen die homosexuellen weißen Hengste doch?) wirkt fast dämonisch mit seinen großen schwarzen, Alien- oder Manga-gleichen, Kulleraugen – mindestens gephotoshoppt, vielleicht nicht bloß künstlerisches, sondern gar auch künstliches 3D-Objekt. Das Pferd ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der unfreiwilligste Arbeiter/Sklave in der ganzen Geschichte, der heimliche Held, und schafft es nicht einmal heil in einem Stück bis ans Ende. Würde nicht zumindest es eine technologisierte Gesellschaft bevorzugen? In der bayerische Automobilunternehmen sich um den Individualverkehr, und mailer daemons um die Nachrichtenübermittlung kümmern? (Bekanntmachung: wartsmagazine.com genießt keine wie auch immer geartete Unterstützung von bayerischen Unternehmen der Automobilindustrie. Stand jetzt.)
Agneszka Polska, The Demon’s Brain (Des Dämonen Hirn), Preis der Nationalgalerie, 27 September 2018-03 März 2019, Museum Hamburger Bahnhof
World of Arts Magazine – Zeitgenössische Kunstkritik
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